Ein interessantes Interview aus dem Bonedo, das online Musikerportal:

Lampenfieber, Talent und sinnvolles Üben

Heiko Heinz (Autor, Musiker) im Interview mit Prof. Dr. Andreas C. Lehmann, Professor für systematische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik in Würzburg und Vizepräsident der deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie.

Wir Musiker sind in der Regel mit unserem Instrument beschäftigt, wir komponieren, texten oder arrangieren oder schrauben an unserem Equipment und vergessen dabei vollkommen, dass unser Körper und unser Geist eigentlich eine Gesamtheit bilden, bei der die verschiedenen Mechanismen im Idealfall optimal ineinandergreifen. Will man bestmögliche Ergebnisse erzielen, sollte allerdings jeder Dreh an einer der zahlreichen Stellschrauben gut durchdacht sein. Leider kommen im Alltag die Themen, die auf ihrem Orbit etwas weiter von unserem Instrument entfernt kreisen, oft genug zu kurz. Anlass genug, das Gespräch mit einem Experten zu suchen, um endlich all die Fragen zu stellen, die mich schon lange umtreiben und die ich bereits mit vielen Musikerkollegen diskutieren durfte.

»Herr Prof. Dr. Lehmann, was ist Lampenfieber und was passiert da im Gehirn und wie sind die körperlichen Auswirkungen?«
Im Grunde haben wir den Parasympathikus, das vegetative Nervensystem, das sich mit dem Zur-Ruhe-kommen befasst und den Sympathikus, das anregende Nervensystem, das für Flucht und Kampf zuständig ist. Das sympathische Nervensystem bereitet unseren Körper auf stressvolle Situationen vor. Das hatte evolutionär sicher seinen Nutzen, aber birgt natürlich einen Nachteil, wenn wir in einer Situation wie einer Aufführung sind, dort Leute vor uns haben und unser Körper eigentlich darauf eingestellt ist, diese Leute anzugreifen oder vor ihnen wegzurennen. Die typischen Symptome sind schweißige Hände, Zittern, weiche Knie etc.
Die Evaluationssituation (Bewertungssituation), vor anderen zu spielen, hat natürlich auch eine kognitive Belastung zur Folge. Kognitive Mechanismen treten in Kraft wie „Schaffe ich das wohl?“, „Hoffentlich vertue ich mich nicht“, „Komme ich gut rüber?“ wodurch auch die Aufmerksamkeit eingeengt wird und man nicht mehr so viele Kapazitäten zur Verfügung hat, sich auf das zu konzentrieren, auf was man sich konzentrieren muss. Das heißt, man besitzt nicht mehr so viele Ressourcen, um sich auf das Spiel zu konzentrieren und darum wird die Performance auch schlechter.

»Das heißt, man muss sich Reserven schaffen, damit noch genug Luft da ist, wenn etwas abgezogen wird?«
Ganz genau! Man muss seine ganzen Spielhandlungen überlernen, sodass sie auch unter geringerer kognitiver Leistungsfähigkeit aufrechterhalten werden können.

»Warum ist es so, dass bei Lampenfieber eher ein motorisches Lähmungsgefühl die Konsequenz ist, wenn der Körper sich doch eigentlich durch Adrenalin auf eine höhere Leistung vorbereitet?«
Diejenigen Muskeln werden auf Spannung gestellt, die man für Angriff oder Flucht bräuchte. Diese Spannung ist im System angelegt, wohingegen der Parasympathikus die Entspannung bringen würde. Adrenalin und Stresshormone führen zu einer Steifigkeit, die die Feinmotorik blockieren kann.

»Ist Lampenfieber per se etwas Schlechtes?«
Nein, Lampenfieber ist unter Menschen normal verteilt, das heißt, es handelt sich um eine glockenförmige Verteilung. Jeder hat Lampenfieber, die Frage ist, wie viel? Es gibt Menschen, die wenig oder nur eine leichte Nervosität haben und damit auf der linken Seite der Glocke beheimatet sind. Die mit extremem Lampenfieber haben wir auf der rechten Seite, was bei einer Normverteilung im Bereich von 2% bis 5% liegt, das meiste spielt sich um den Mittelwert ab. Diejenigen, bei denen die Symptome extrem sind und die wirklich alles abgeklärt und richtig geübt haben, muss man sich dann auch die Frage stellen, ob Konzerte und Aufführungen der richtige Job für sie sind, oder ob sie nicht in einem anderen musikalischen Bereich tätig werden sollten wie z.B. Unterrichten.

»Aber Lampenfieber ist auch unabhängig von der Expertise. Man spricht von Fällen wie Barbara Streisand oder Michel Petrucciani, die sehr nervös bei Auftritten waren.«
Richtig, das ist unabhängig von der Spielexpertise und ist sicherlich auch in der Persönlichkeit angelegt. Durch Übung des Auftritts wird dieses Gefühl natürlich auch besser, weil man die Erfahrung macht: Ich kann das und werde damit fertig. Man hat diesen Sachverhalt bei professionellen Fallschirmspringern erforscht. Bei Erfahrenen stellt sich der Angstgipfel vor der Handlung ein, sodass zum Zeitpunkt der Ausführung kaum noch Nervosität vorhanden ist. Das heißt, die Maximalangst wird quasi vorverlegt, wohingegen bei Laien die Maximalangst während der Performance selbst auftritt.

»Kann es ein, dass Musiker sich stärker über ihre Leistung definieren als das in anderen Berufsgruppen der Fall ist und dadurch das Phänomen Lampenfieber hier auch stärker auftritt?«
Vor allem klassische Musiker sind sehr fehlerfokussiert. Ich denke, Rock/Popmusiker und Jazzer können im Rahmen der Kreativität den Fehler auch als positiv erleben oder als „hat stattgefunden, kann man mit leben“. Das findet man bei Klassikern eher selten, da sie sehr perfektionistisch sind und der Druck sehr hoch ist, gerade dann nichts zu vergessen, wenn auswendig gespielt wird. Und anders als in anderen Musiksparten kann der Mitmusiker auch nicht zuflüstern: „Bridge!“. Hat man einen Teil vergessen, dann ist er vergessen und man kommt in Teufels Küche. Hier sind auch die Erwartungen des Publikums hoch, was die notengetreue Wiedergabe anbelangt und vor allem die eigene Erwartungshaltung. Ich versuche Studenten immer dazu zu animieren, diese Haltung etwas herunterzufahren, da viele unter der Fehlwahrnehmung leiden, das Publikum würde auch auf die Fehler hören. Das Publikum möchte jedoch etwas „erleben“, wenn sie einen Musiker sehen, sie möchten angerührt werden und ein Live-Erlebnis genießen. Ob da drei falsche Töne dabei sind, interessiert das Publikum nicht.

»Wobei wir jetzt davon ausgehen, dass das Publikum nicht primär aus Musikern besteht. Aber welche Strategie schlagen Sie vor, wenn man vor einem Fachpublikum, seien es Musikkritiker, andere Musiker etc. vortragen muss?«
Ich denke, zum einen wird man zwar sein Bestes geben, aber man sollte auch nicht das Material spielen, das an der Obergrenze des eigene Könnens liegt, sondern sich etwas Luft verschaffen. Auf der anderen Seite spielt man natürlich vor einem Fachpublikum häufig, wenn man auch gut ist oder das zumindest von sich denkt. Profis sollten so etwas aushalten, sonst sind sie im falschen Beruf und das sollte auch jeder Musiker für sich frühestmöglich erkennen. Das ist die Frage: „Wie wird ein Rennfahrer mit der Angst fertig, auf dem Nürburgring zu fahren?“.

»Wie stehen sie zu Medikamenten wie z.B. Betablocker gegen Lampenfieber?«
Von Hilfsmitteln wie Alkohol, Drogen und Medikamenten ist tendenziell abzuraten, da sie vielleicht kurzfristig helfen können, aber langfristig keine gute Grundlage bilden. Viele Musiker nehmen auch Mittel, obwohl sie es vielleicht gar nicht bräuchten. Das Phänomen ist, dass man eine physiologische Angst hat (die sich in Körpersymptome äußert) und danach stellt sich eine kognitive Angst ein aufgrund der Symptome. d.h. zur Angst gesellt sich die Angst vor der Angst. Wenn man nun Medikamente nimmt, die die körperlichen Symptome lindern, stellt sich der Gedankenprozess ein: „Ich zittere ja gar nicht, also habe ich offensichtlich auch keine Angst?“

»Gibt es Möglichkeiten professioneller, therapeutischer Hilfe?«
Definitiv gibt es da Therapieformen und wenn man das Problem bei sich erkennt, sollte man auch keine Scheu davor haben, diese in Anspruch zu nehmen.

»Inwieweit können Eltern und Lehrer Einfluss auf das Lampenfieber ihrer Kinder/Schüler haben?«
Manche Lehrer bereiten ihre Schüler nicht auf den Auftritt vor. Der Auftritt muss dazugehören und Normalität sein und eben nicht das Besondere. Lehrer sollten den Auftritt üben und jede Stunde wie ein Konzert gestalten: „So, ich bin jetzt das Publikum, spiel doch mal vor, was du geübt hast!“. Wenn man diese Simulation immer wieder macht, nimmt man den Schülern vieles von der Angst.
Für Eltern gilt das das Gleiche. Wenn Eltern nach dem Vorspiel sagen:
„Na, da waren aber ein paar Fehler!“, anstatt:
E: „Das hast du toll gemacht“
S: „Ich habe mich aber verspielt“
E: „Na und? Das gehört dazu, alle machen Fehler, selbst die Profis!“
Eltern sind im Idealfall die Surrogatlehrer, die den verlängerten Arm des Instrumentallehrers darstellen.
Lampenfieber, Talent und sinnvolles Üben

»Das heißt, die „preußische“ Erziehungsmethode, die vor ein paar Generationen geherrscht hat, ist eher kontraproduktiv?«
Würde ich sagen, wobei Druck natürlich kurzfristig immer funktioniert. Je höher der Druck, desto höher die Leistung. Die Frage ist nur, mit welchen Konsequenzen und zu welchem Preis! Weltrekorde im Sport werden natürlich nicht mit Kuschelpädagogik aufgestellt, sondern mit knallhartem Training. Das ist im Instrumentalbereich natürlich genauso: Wenn man hoch hinaus will, braucht man ausgezeichnete Lehrer, und die haben unterschiedliche Methoden.

»Das heißt, eine gesunde Form von Druck ist notwendig?«
Sagen wir mal so: Ich wüsste nicht, wer nur mit einer großen Freiwilligkeit und Ermunterung oben hingekommen ist. Und wenn der Druck nicht von außen gekommen ist, haben sich die Spitzenleister den Druck selbst gemacht.

»Zurück zum Lampenfieber. Wie bereite ich mich auf Passagen vor, bei denen ich die Befürchtung habe, dass sie höchstwahrscheinlich schief gehen beim Auftritt?«
Also die Idee, dass sie höchstwahrscheinlich schief gehen, ist schon mal falsch. Ganz am Anfang sollte man eine gute Diagnostik machen: „Was ist überhaupt das Problem?“ und vielleicht auch jemanden fragen, der erfahrener ist und ihn bitten, sich das Stück anzuschauen. Man muss die Passage in ihre Einzelteile zerlegen, um zu sehen, wo das Problem ist. Häufig ist es so, dass die Hände etwas schon können, der Kopf es aber noch nicht verstanden hat und in einer Stresssituation fragt sich dann ein Tausendfüßler, welches Bein hebe ich jetzt zuerst? Dann ist eine andere Situation als beim Üben vorhanden und dann scheitert man.

»Das heißt, auch mal eine Passage ohne Instrument mental, nur im Kopf durchspielen, visualisieren und vor dem inneren Ohr hören?«
Genau! Man muss ganz genau verstehen, was man macht, denn nur, was man mit dem Kopf verstanden hat, kann man mit den Fingern steuern, denn die Hände haben selber keine Intelligenz. Es gibt zwar etwas, dass man „Fingergedächtnis“ oder „motorisches Gedächtnis“ nennt, aber – und das wissen die Klassiker am Besten – das motorische Gedächtnis kommt zwar schnell, ist aber fatal, denn es reicht nicht unter Belastung. Das stellen viel junge Künstler dann auch fest: Was zu Hause klappt, funktioniert beim Vorspiel nicht mehr, weil man das Stück verstanden haben muss.
Man muss eine Passage im Prinzip zweimal auswendig lernen. Das erste Mal kommt mehr oder weniger von alleine, wenn man das Stück häufig spielt, aber dann muss man es noch einmal zerbrechen, um es durchdrungen zu haben, sonst ist es für die Bühne nicht tauglich.

»Macht es Sinn, sich beim Üben bereits in eine auftrittsähnliche Situation zu begeben? Das heißt, Eltern, Freunde etc einladen und eventuell auch in der Sitz/Steh-Haltung des Auftritts zu üben, z.B. bei Gitarristen oder Sängern?«
Definitiv. Wir üben nicht nur die Noten, wir üben die Situation, die Gefühle und Sinneseindrücke. Unser Gedächtnis ist kontextabhängig. Alles, was wir beim Üben tun, üben wir mit ein. Sehr übertrieben formuliert: Wenn es beim Üben immer nach Kaffee riecht und beim Auftritt nach Sauerbraten, spiele ich womöglich schlechter, weil der Kaffeegeruch zum Üben dazugehört. Je ähnlicher also der Auftritt der Übung ist, desto leichter wird das Lernergebnis transferieren.
Man sollte auch in den Auftrittsklamotten üben! Das wird besonders die Damen interessieren, die meist in Alltagskleidung üben und beim Auftritt womöglich ein Kleid und hohe Schuhe tragen – und schon stimmt das Körpergefühl nicht mehr mit dem Übegefühl überein.
Lampenfieber, Talent und sinnvolles Üben

»Gibt es auch so etwas wie „partielles“ Lampenfieber? Mir beispielsweise bereitet der Auftritt kein Problem, aber ich habe jedes Mal Angst vor solistischen Passagen.«
Ich weiß, das viele klassische Musiker Angst vor bestimmten Stellen haben. Aber meistens sind solche Stellen auch so über-übt, dass die Fehler eher da passieren, wo Passagen auf „Autopilot“ sind und man noch nie darüber nachgedacht hat. Dann spielt man diesen Part und fragt sich“ Was mache ich eigentlich?“ und fliegt aus der Kurve.
In dem anderen Fall kann man sich an die Aufregung in solistischen Passagen langsam herantasten, indem man z.B. den Bassisten bittet, anfangs mitzuspielen und nach und nach zu reduzieren.
Aber das ist auch ein Indiz dafür, dass Lampenfieber nicht das wirkliche Problem ist, sondern nur eine bestimmte Situation, die man durch Routine ausmerzen kann.

»Kommen wir nun zum Thema Üben und Talent. Wie ist momentan der Stand der Wissenschaft? Gibt es so etwas wie „Talent“ oder ist der Begriff nur Synonym für eine frühkindliche Prägung?«
Da herrschen einige Kontroversen. Das Problem ist, dass man Talent, wenn man es als genetische Disposition betrachten will, unentwickelt quasi nicht messen kann. Man findet natürlich bei musikalischen Hochleistern gewisse genetische Marker, die besonders günstig sind, wie z.B. eine gute auditive Verarbeitung, aber das ist schon relativ unspezifisch. Eine gute Verarbeitung auditiver Reize im Gehirn sollte man bei Musikern aber auch erwarten. Warum jedoch ein Musiker besser ist als der andere, kann man nicht auf eine so einfache Formel zurückführen.
Wir verwenden im Grunde den Begriff Talent als Erklärung diverser Unterschiede, die häufig auch deutlich andere Ursachen haben. Von daher kann ich zur Existenz oder Nichtexistenz von Talent wenig sagen. Was ich jedoch sagen kann ist, dass das, was wir in der Wissenschaft über das Üben wissen, so deutlich ist, dass es mehr Sinn macht, sich darauf zu konzentrieren. Das heißt, es ist wesentlich zielführender, sich Gedanken darüber zu machen, ob ich den richtigen Lehrer habe und sinnvoll und konzentriert übe, als über mein Talent.

»Ist Talent demnach überhaupt ein Begriff, der in der Musikwissenschaft eine Rolle spielt?«
Historisch gewachsen bestimmt und da ist er auch sehr wichtig, da vor allem im 19. Jahrhundert die Idee des „Genies“ mit dem mystischen oder göttlichen Funken oder der göttlichen Gabe verknüpft war und hochstilisiert wurde. Das hat natürlich auch in der europäischen Philosophie eine tragende Rolle gespielt. Die Amerikaner sind da wesentlich, nennen wir es, pragmatischer. Da gilt „from rags to riches“ – „vom Tellerwäscher zum Millionär“. Da schlägt eher die protestantische Arbeitsethik durch: Wenn du genug tust, dann erreichst du auch etwas.
Und man muss auch sagen, dass eine zielgerichtete Übung (Anm.: „deliberate practice“ – dazu später mehr!) sehr starke Vorhersagen auf die Leistung hat. Es gibt einen sehr starken, schon fast linearen Zusammenhang zwischen Übung und Leistung – je mehr, desto mehr! Und das ist sicherlich viel stärker als alles, was man zum Thema „Talent“ finden kann. Zumindest ist das der aktuelle Stand, ob das später mal anders sein wird, bleibt abzuwarten.
Man muss natürlich auch unterscheiden: Reden wir von Spitzenleistern oder nicht. Im unteren Leistungssegment sind sicherlich Dispositionen und andere Lernerfahrungen viel wichtiger. Nur um eine Analogie zu bilden: Betrachten wir einen kleinen Karton von 30 cm Höhe und wollen über diesen Karton springen, so gibt es sicherlich viele Methoden, wie ich das bewerkstelligen kann: vorwärts, rückwärts, seitwärts, mit Salto etc. Liegt vor uns allerdings eine Latte in zwei Metern Höhe, haben wir schon weniger Möglichkeiten zur Auswahl – da geht’s vielleicht noch mit dem Fosbury Flop (Anm. d. Red.: eine optimierte Hochsprungtechnik nach Dick Fosbury), aber vorwärts schon nicht mehr.
Das heißt, auf unteren Leistungniveaus gibt es unzählige Erklärungsmodelle, warum manche Kinder etwas schneller machen als andere, und dort ist Übung und Leistung sicher nicht so stark korreliert wie am oberen Leistungsende. So hat z.B. ein Kind, das viel auf der Computertastatur daddelt, möglicherweise einen besseren Transfer zur Klaviertastatur als ein Kind, das das nicht macht. Wenn ich jedoch Profipianisten betrachte, dann ist die Gleichmäßigkeit, mit der sie beispielsweise Tonleitern spielen, direkt aus der Übung vorhersagbar von einem Zeitpunkt zum anderen- je mehr, desto gleichmäßiger. Das ist aber das obere Leistungsende.

»Das heißt, je höher das Niveau, desto weniger Wege führen nach Rom?«
Genau, oder anders ausgedrückt: Je niedriger das Niveau, desto mehr sind angeborene Dispositionen entscheidender. Nehmen wir zwei Kinder, die in ein Mundstück blasen, bei einem kommt sofort ein Ton, beim anderen nicht – ist das Talent, Zufall? Keine Ahnung!

»Im Klartext: Es gibt keine wirklichen Studien, die die Existenz von musikalischem Talent als genetische Disposition belegen?«
Nein, gibt es so nicht. Es ist auf jeden Fall nicht so, dass man Übung mit Talent kompensieren könnte. Angeblich talentierte Musiker müssen definitiv nicht weniger üben als angeblich weniger talentierte.
Lampenfieber, Talent und sinnvolles Üben

»Aber wie sieht es im umgekehrten Fall aus, wenn wir den Talentbegriff als frühkindliche Prägung definieren wollen? Sicherlich stellen sich viele die Frage, ob ein Musiker, der erst mit 12 zum Instrument greift, jemals die Chance hat, aufzuholen, was manche schon im Kindesalter erreicht haben?«
Da muss man leider sagen, die Kindheit ist von der Neuroplastizität her sicherlich die aktivste Phase. Das heißt, dass man z.B. auf einem Instrument wie Geige die Intonationsfähigkeit, wenn sie frühkindlich angelegt ist, besser lernen kann, da man ein ganz anders Hörempfinden entwickelt. Man muss sich vorstellen, dass ein Musiker ja im Prinzip wie mit einer Lupe auf ein Thema hört. Und diese Art von intensiver Wahrnehmung von domänenspezifischen (anwendungs- oder fachspezifischen) Informationen kann man natürlich am Besten im jungen Alter lernen. Kinder aus Musikerhaushalten bekommen das natürlich ganz beiläufig. Die hören nicht nur, wie gut geübt wird, sondern werden auch selbst angeleitet. Wenn man mit 12 aus Protest die Klampfe in die Hand nimmt, hat man da natürlich keine Chance mehr gegen jemanden, der seit dem 4. Lebensjahr klassische Gitarre gelernt/geübt hat.

»Sie würden auch tatsächlich sagen, dass irgendwann ein bestimmter Zug auch abgefahren ist, den man auch nie wieder oder nur höchst schwer kompensieren kann?«
Würde ich sagen. Das ist mit Sprachen ja ähnlich – man kann ja nur bis zu einem gewissen Alter eine Sprache akzentfrei lernen und die Laute differenzieren. Es sei denn, man nimmt sehr viel Mühe auf sich, dann gibt es bestimmt noch ein paar Möglichkeiten. Aber ja, würde ich sagen, der Zug ist abgefahren. Wobei die Übergänge natürlich fließend sind und der eine sich auch später entwickelt als der andere. Ich würde jetzt keinen Tag darauf setzen wollen, aber das Instrument deutlich vor dem 9. Lebensjahr anzufangen ist gegenüber später, vor allem nach dem Einsetzen der Pubertät, sinnvoll.

»Würde eine intensivere Auseinandersetzung mit Musik in passiver Form durch viel Zuhören bereits ausreichen, um die frühkindliche Prägung zu erhalten?«
Die Analytik, die man beim Hören vornimmt, kommt ja erst dadurch, dass man beim Machen versteht, was überhaupt vor sich geht. Wenn ich mir ein Gemälde anschaue, lerne ich nichts über Maltechnik. Im Bereich Musikalität und Ästhetik mag das ausreichen, denn in Familien, in denen z.B. viel Jazz läuft, bekommt das Kind ein ganz anderes Gespür für das Idiom, Kinder von Klassikern bekommen viel leichter ein Gespür für das Ritardando etwa, das in der Rock/Popmusik beispielsweise kaum ein Rolle spielt usw.

»Was sind beim Übern sinnvolle Zeiteinheiten?«
Zirka 20 Minuten, kurze Pause – 20 Minuten, kurze Pause – 20 Minuten, längere Pause usw. Im Idealfall immer nur so lange, wie ich mich konzentrieren kann. Aber das muss jeder selbst für sich überprüfen. In dem Moment, in dem man sich nicht mehr gut konzentrieren kann, bringt das Üben nichts! Der Sinn wird nur erfüllt, wenn ich ein Ziel habe und dem auch nachspüre. Die Ziele können diverser Natur sein, ich kann mir ein Aufnahme anhören oder etwas transkribieren, ich muss das Instrument also dabei nicht unbedingt spielen.

»Differenzieren Sie beim Üben dann zwischen kognitiv beanspruchenden und motorischen Übungen?«
Nein, das ist identisch. Wenn die Finger nur einfach vor sich hin laufen, kann man es auch lassen.

»Und Üben beim Zeitungslesen oder Fernsehen?«
Davon ist nichts zu halten. Eventuell bringt das für die Ausdauer etwas, aber wenn man konzentriert übt, bekommt man die auch. Die Hände können eigentlich nichts ohne den Kopf und das Spannende beim Üben ist, sich selbst zuzuhören und sich zu fragen: „Wo kann ich etwas verbessern?“. Sobald die Hände einfach nur laufen, kann ich das nicht – wo ist dann das Üben? Das Ziel muss da sein und der Kopf muss immer kontrollieren, ob das Ziel erreicht wurde.
Man hört immer wieder Studenten nach der Mittagspause übermüdet ihre Stücke abspielen und sich der Illusion hingeben, sie würden üben, um das Mittagstief zu überbrücken. Da wäre es sinnvoller, schlafen zu gehen.

»Aber kann man dann überhaupt acht Stunden sinnvoll üben? Man liest immer von Virtuosen, die 14 Stunden geübt haben.«
Nein, kann man nicht. Man sagt, dass etwa vier Stunden konzentrierte Arbeit das Maximum sind. Rechnet man die Pausen ein, ist man bei insgesamt etwa sechs Stunden, und dann hat man auch wirklich alles gemacht, was man machen kann.

»Angenommen, ich habe nur eine begrenzte Übezeit. Ist es dann sinnvoller, ein Thema intensiv zu bearbeiten oder sollte ich mehrere Themengebiete anreißen?«
Aus dem Sport gibt es einige Untersuchungen dazu. Am besten transferiert Wissen, wenn man häufiger auch mal wechselt. Lehrern empfehle ich z.B. auch im Unterricht mit den Schülern einfach mitzuspielen, weil das für die Motorik natürlich Übezeit ist.
Und dann vielleicht zwei Themenpunkte pro Tag zu bearbeiten.
Lampenfieber, Talent und sinnvolles Üben

»Früher galt immer der Grundsatz „schnelle Passagen nur so schnell spielen, bis man sie sauber wiedergeben kann und dann das Metronom graduell erhöhen“. Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich manchmal ein Stück auch schneller spielen muss, als ich es noch kontrolliert und sauber wiedergeben kann, um meinem Gehirn die Information zu geben: „Hier soll’s hingehen“. Wie ist hier der Stand der Überforschung?«
Es ist nicht sinnvoll, Dinge zu lange zu langsam zu üben, die später mal schnell gespielt werden müssen. Häufig findet man dann falsche Lösungen für Probleme, die später gar nicht das eigentliche Problem sind. Zum Beispiel werden bei Pianisten Fingersätze genommen, die langsam gut funktionieren, schnell dann jedoch nicht mehr. Das Zieltempo zu wissen ist bei Profis wahrscheinlich sogar der Startpunkt der Übung: Üben ohne Ziel ist Mist! Darum sollte man am Anfang gleich das Ziel stecken und darauf hinarbeiten und herunterbrechen: „Wie komme ich dahin?“

»Ich darf beim Üben also durchaus kurz mal ein höheres Tempo wählen und ein paar Unsauberkeiten in Kauf nehmen?«
Genau, damit der Kopf das Gesamtbild etablieren kann!

»Beim Üben habe ich die Erfahrung gemacht, dass Fortschritt nicht linear verläuft, sondern in einer kurzen linearen Steigung, gefolgt von einer Plateauphase, gefolgt von einer Steigung, gefolgt von einem Plateau usw. Gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse zu diesen Fortschrittssprüngen?«
Es gibt so etwas wie „neuronale Konsolidierung“, bei der die „richtigen Schaltungen“ erhalten bleiben und die störenden Fehlschaltungen, die man beim Üben aufgebaut hat, durch Nichtverwendung gelöscht werden. Wenn man ein Stück mal ruhen lässt, verliert man den ganzen Ballast, der beim Üben entstanden ist, und beim erneuten Aufgreifen fallen die überflüssigen Schaltungen weg.
Längerfristige Plateaus bei Schülern und Studenten sind immer ein Zeichen für das Versagen des Lehrers in dieser Hinsicht. Häufig sagt dann der Lehrer: „Sorry, das Talent reicht nicht weiter“. Ich würde jedoch eher sagen „Der Lehrer reicht nicht weiter“. Vielleicht muss das Stück einfach nur Ruhen oder der Student muss mal zu einem anderen Lehrer.

»Diese Stagnationsphasen sind also normal, man muss sie eventuell durch ein neues Thema überbrücken und dann auf das alte Thema wieder zurückgreifen?«
Richtig. Es gibt auch das Phänomen, dass etwas immer schlechter wird statt besser, wenn man es mehrmals hintereinander spielt. Das nennt man proaktive Inhibition, ein psychologisches Phänomen. Darum sollte man kurz vor dem Auftritt nicht seine schwierigste Stelle mehrfach schnell wiederholen, weil die Chance, dass sie immer schlechter wird und man in Panik verfällt, sehr hoch ist. Dann muss man sich kurz ablenken und etwas anderes spielen, dann wieder zurück und das Phänomen ist weg.

»Kann man Kreativität üben?«
Kreativität ist so ein Alltagsterminus geworden, der schwer zu greifen ist. Wenn es um Improvisation und Komposition geht, ist der handwerkliche Anteil sehr hoch und das kann man lernen und üben, mit vielen Methoden, die es auch dafür gibt. Wer von Natur aus kein spontaner und extrovertierter Mensch ist, hat das vielleicht noch nicht allzu oft gemacht und hat möglicherweise gegen die eigene Persönlichkeit zu kämpfen, aber prinzipiell kann man das lernen, wie alles andere auch.

»Eine Frage zum Thema „Ergebniskontrolle“: Warum höre ich mein Spiel beim Üben anders als wenn ich mich aufnehme und es danach anhöre und analysiere?«
Wenn wir spielen oder üben, tun wir viele Dinge, wenn ich mir etwas anhöre nur eine Sache – bei Sängern ist das nochmal ein ganz anderes Thema – und dementsprechend liegt mein Fokus anders. Selbst wenn ich die Aufnahme zweimal anhöre, wird man zweimal etwas unterschiedliches hören, weil man nie den gleichen Fokus hat. Ich kann nur raten, sich so oft wie möglich aufzunehmen und das später zu analysieren und Revue passieren zu lassen – und das ist für mich auch „Üben“.
Lampenfieber, Talent und sinnvolles Üben

»Zum Abschluss noch eine Frage: Was genau ist „deliberate practice“?«
Im Grunde verbirgt sich hinter diesem Begriff das zielgerichtete Üben. Was immer mein Ziel ist, dazu muss mein Üben passen. Für alles, was ich übe, sei es Improvisation, Skalen, Rhythmus etc, gibt es eine spezifische „deliberate practice“.
Im besten Fall steht dann die in diese Übung investierte auch in einer vorhersagbaren Relation zur Leistung. Voraussetzungen sind natürlich, dass man ein Ziel vor Augen hat, eine Methode, wie ich dorthin gelange und eine Kontrolle und Rückmeldung sich darüber einholt, ob das Ziel auch erreicht wurde. Im Klassikbereich ist das häufig der Lehrer, aber ich kann sie mir auch selbst geben, indem ich mich aufnehme.
Der Begriff wurde in seiner Definition zwar auf den Klassikbereich gemünzt, was oft zu Missverständnissen geführt hat, aber eine „deliberate practice“ sieht für den Rockschlagzeuger oder Organisten natürlich vollkommen anders aus. Wichtig ist: Spezifische Übungen, die auf eine Leistungsverbesserung abzielen und mit investierter Anstrengung/Konzentration verbunden sind.

»Sprich, jede Form von Üben sollte im Idealfall „deliberate practice“ sein?«
Genau, im Grunde ist es „optimierte Übung“.

»Was entgegnen sie Musikern, die sagen „Mich stört diese eingeengte Struktur beim Üben, ich will da frei sein“?«
Wenn wir finden, dass freies Spiel für Rock/Jazzmusiker prädiktiv für eine höhere Leistung ist, dann entspricht das ja dem Konzept der „deliberate practice“.

»Herr Prof. Dr. Lehmann, vielen Dank für das sehr informative Gespräch!«

Informationen zur Person:
Wer sich für Prof. Dr. Lehmann und seine Arbeiten interessiert findet hier weitere Informationen:
Prof. Dr. Andreas C. Lehmann – Systematische Musikwissenschaft
Veröffentlichungen Prof. Dr. Andreas C. LehmannLampenfieber